Bekannte und neue Erkenntnisse im vorläufigen Rechtsschutz
Bekannte und neue Erkenntnisse im vorläufigen Rechtsschutz
Vorläufiger Rechtsschutz in Österreich
Der Begriff des „einstweiligen Rechtsschutzes“ ist dem Österreichischen Recht tatsächlich fremd. Verstanden werden darunter sämtliche Bestimmungen, die a) bloß die spätere Geltendmachung von Rechten in einem (Haupt-)verfahren erleichtern oder absichern sollen, sowie b) die vorübergehende Regelung der Rechtsverhältnisse zwischen den Parteien bis zu einer endgültigen Entscheidung ermöglichen. Demnach werden grundsätzlich unterschieden die Verfügungen zur Sicherung von Geldforderungen (§ 379 EO), die Verfügungen zur Sicherung von anderen Individualansprüchen (§ 381 Z 1 EO) und die Besonderen Verfügungen zur Sicherung der sonstigen Rechtssphäre (§ 381 Z 2 EO).
Rechtsquellen für EV
Die Maßnahmen zum einstweiligen Rechtsschutz sind nicht nur in den §§ 379 ff ZPO zu finden. Es lohnt sich auch ein Blick in die folgenden Gesetze:
- AußstrG
- ZPO (Exekution zur Sicherstellung; Beweissicherung; Besitzstörungsverfahren)
- ABGB (§ 932a: Gerichtlicher Verkauf eines Tieres wegen eines Viehmangels)
- ASVG (§ 74 Abs 2 ASVG: Zuerkennung einer vorläufigen Leistung)
- MRG (EV nach § 37 Abs 3 Z 22 MRG)
- KartG (EV nach § 48 KartG 2005)
- GBG (§ 61: Streitanmerkung)
EV zur Sicherung von Geldforderungen (§ 379 EO)
Diese Verfügungen werden beantragt, um die künftige Exekution wegen Geldforderungen aufgrund der Erhaltung des Vermögens zu sichern. Deren Erlassung setzt die Wahrscheinlichkeit voraus, dass der Gegner der gefährdeten Partei
„durch Beschädigen, Zerstören, Verheimlichen oder Verbringen von Vermögensstücken durch Veräußerung oder andere Verfügungen (…) die Hereinbringung der Geldforderung vereitelt oder erheblich erschweren würde.“
Im Gegensatz zur EV zur Sicherung von anderen Individualansprüchen nach § 381 Z 1 EO bedarf es hier einer subjektiven Gefährdung. Eine objektive Gefährdung ist nur dann ausreichend, wenn die Gefahr besteht, das Urteil außerhalb des Geltungsbereiches des LGVÜ/EUGVÜ vollstrecken zu müssen (Verbringung von Vermögenswerten). „Wahrscheinlichkeit“ muss grundsätzlich iSv „überwiegender Wahrscheinlichkeit“ dh „Bescheinigung“ (51%) verstanden werden. Teilweise verlangt die Rsp aber eine „hohe Wahrscheinlichkeit“ (ZB in 4 Ob 299/98a).
Nach der Rsp ist eine EV nicht zulässig bei:
- drohender Konkurseröffnung, außer es wird die Gefahr einer ungleichmäßigen Gläubigerbefriedigung bescheinigt (SZ 23/93)
- bloßer Untätigkeit des Schuldners (strittig)
Die Bedeutung dieser EV ist aufgrund der strengen Voraussetzungen, der im Allgemeinen kurzen Verfahrensdauer und der Möglichkeit der Exekution zur Sicherstellung idR gering. Dies ist auch die einzige EV, wo der Gesetzgeber die Sicherungsmittel taxativ aufzählt (§ 379 Abs 3 ZPO).
EV zur Sicherung von anderen Individualansprüchen (§ 381 Z 1 EO)
Mit dieser EV sollen Ansprüche, die nicht auf Zahlung, sondern auf sonstige Leistung, Duldung oder Unterlassung gerichtet sind, gesichert werden. Im Gegensatz zur EV zur Sicherung von Geldforderungen nach § 379 EO reicht hier eine objektive Gefährdung. Es muss demnach zu besorgen sein, dass ohne die EV die
„gerichtliche Verfolgung oder Verwirklichung des fraglichen Anspruchs, insbesondere durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes, vereitelt oder erheblich erschwert werden würde.“
Die EV ist insb zulässig bei:
- Weigerung des Verkäufers, den Vertrag zu unterschreiben, weil andere Interessenten vorhanden sind (nicht aber: die bloße Erklärung des Gegners, sich nicht an den Vertrag gebunden zu erachten, oder die ausdrückliche Verweigerung der Erfüllung)
- drohenden Exekutions- und Sicherungsmaßnahmen anderer Gläubiger
- Nicht jedoch: die normale Abnützung der Sache
Besondere EV zur Sicherung der sonstigen Rechtssphäre (§ 381 Z 2 EO)
Diese Verfügungen werden nach dem Gesetz zur „Verhütung“ drohender Gewalt oder zur „Abwendung eines drohenden unwiederbringlichen Schadens“ beantragt, also zur umfassenden Sicherung einer streitigen Rechtssphäre. Sie haben daher vor allem Regelungsfunktion (durch rechtsgestaltende Maßnahmen oder Unterlassungsaufträge soll bis zur Klärung der Rechtslage im Hauptverfahren ein einstweiliger Friedenszustand herbeigeführt werden, zB Eigentum oder Dienstbarkeiten, sonstige absolute Rechte wie Namens- Urheber- oder Patent und Wettbewerbsrechte, Miet- oder Gesellschaftsverhältnisse, Ehe- und Kindschaftsverhältnisse), zT aber auch Leistungs- und Befriedigungsfunktion (ein Leistungsanspruch wird vorläufig befriedigt, zB Zuerkennung vorläufigen Unterhalts gem § 382 Abs 1 Z 8 lit a EO; ob auch andere, ist strittig). (Vgl Rechberger/Oberhammer, Exekutiosrecht3 Rz 495 ff)
Bsp für drohende Gewalt:
- „Ausmietung“ durch mehrfache Knochenbrüche des auf Räumung geklagten (2 Ob 624/90)
- Auch Beschimpfungen (einschränkend Zechner, EV § 381 Rz 6)
Bsp für unwiederbringlichen Schaden:
- Zurückversetzung in den vorigen Stand untunlich und Geldersatz nicht möglich oder nicht adäquat
- Immaterielle Schäden (Angriffe gegen Ehre, drohende Obdachlosigkeit, wesentliche Minderung der Wohnqualität)
- Gesundheitsschäden
- Reine Vermögensschäden nur, wenn der Gegner nicht zahlungsfähig ist, Verlust der wirtschaftlichen Existenz oder von Kunden droht
- Ausnahmsweise keine Gefährdung erforderlich: § 24 UWG, § 147 Abs 2 PatG
Für die Herausgabeansprüche kommen demonstrativ die in § 382 Abs 1 ZPO genannten Sicherungsmittel in Betracht:
- Gerichtliche Hinterlegung der Streitsache
- Setzung bestimmter Erhaltungsmaßnahmen
- Verbot der Unterlassung bestimmter nachteiliger Handlungen oder Veränderungen
- Eintragung eines Veräußerungs- und Belastungsverbotes im Grundbuch bei unbeweglichen Sachen
Ausgewählte materielle Probleme bei EV (EV, 12f)
- Bankgarantien: Wenn der Begünstigte die Garantie rechtsmissbräuchlich oder arglistig in Anspruch nimmt und der Garant dies liquide und eindeutig nachweisen kann. Die missbräuchliche Inanspruchnahme der Garantie muss geradezu evident sein (SZ 54/189 = EvBl 1982/57)
- Feststellungsansprüche: Sicherbar, wenn bedingte oder künftige Leistungsansprüche dahinter stecken (6 Ob 26/01v)
- Nicht fällige Ansprüche: Möglich, außer, der Anspruch wird nur möglicherweise entstehen (zB Kostenersatzansprüche, 8 Ob 291/98x)
- Bedingte Ansprüche: Sicherbar (zB Liegenschaftskauf bei Fehlen der grundverkehrsbehördlichen Genehmigung, SZ 52/48)
- Eventualbegehren: Sicherbar, wenn Eventual- und Hauptbegehren einander nicht ausschließen
- Anspruchsbindung: Nach hA muss die EV im Rahmen des Haupanspruchs bleiben (RIS Justiz RS0004815)
- Keine Maßnahmen, die nicht wieder rückgängig gemacht werden können (zB: Löschung einer Firma, SZ 27/317; Löschung einer Domain, 4 Ob 166/00s)
- Keine Vorwegnahme der Entscheidung im Hauptverfahren: zB Verbot der Entgegennahme von Werbeaufträgen, 4 Ob 14/94; schon möglich: befristetes Unterlassungsgebot
- Kein Eingriff in Rechte Dritter: zB Notar auf Hinterlegung eines Rangordnungsbeschlusses
- Kein Eingriff in die Kompetenz anderer Gerichte oder Behörden: zB EV auf Verbot eines Beweismittels
Ausgewählte prozessuale Fragen bei EV
Einzelfälle
- Kein Recht des Antragsgegners auf Anhörung (ÖBl 1990, 32 = RZ 1990/26, 73); wurde er nicht (zu sämtlichen Standpunkten) gehört, kann er gem § 397 Abs 2 EO binnen 14 Tagen nach Zustellung des Beschlusses Widerspruch erheben. Der Widerspruch setzt die EV nicht außer Kraft, sondern ermöglicht nur, dass im Rahmen der Anfechtungsgründe über die EV neu entschieden wird. Über den Widerspruch entscheidet das Erstgericht (nicht remonstrativer Rechtsbehelf); in der Praxis wird jedoch für gewöhnlich eine dreitägige Frist zur Äußerung gewährt; es kann sogar Amtshaftung begründen, wenn der Gegner gehört wird
- Anders als zB in D besteht in Ö keine Möglichkeit, vorsorglich Einwendungen gegen eine EV zu erheben („Schutzschrift“)
- Eidesstättige Erklärungen nur bei solchen Personen zulässig, die nicht Partei sind
- SV-Gutachter nicht zulässig, weil zu lange dauert (daher Privatgutachten)
- Bei Sicherheitsleistung wird die EV erst wirksam, wenn die Sicherheitsleistung erlegt wurde. Wird die EV dennoch zugestellt, ist sie unbeachtlich (Problematik der Ungewissheit)
- In 99,9% der Fälle gilt das Ergebnis der EV auch für das Hauptverfahren, weswegen es in diesen Fällen regelmäßig zu Vergleichen kommt.
Micaleff v. Malta (EGMR No. 17056/06) - Neuer Zugang („new approach“)
In der E Micaleff v. Malta vom 15.10.2009, No. 17056/06, schuf der EGMR nunmehr einen neuen Zugang: Während nach seiner bisheriger Rsp Provisorialverfahren nicht (Anm: Dies war auch die ganz herrschende Ansicht in Österreich) unter Art 6 EMRK gefallen waren (Für eine Übersicht der Rsp siehe Kodek, die Anwendbarkeit von Art 6 EMRK auf Provisorialverfahren, Zak 2010/7, 8), erkannte der EGMR nunmehr, dass Art 6 EMRK auch auf Provisorialverfahren voll anwendbar sei. Nur in Ausnahmefällen könnten alle Garantien des Art 6 EMRK nicht eingehalten werden, was in etwa dann der Fall sei, wenn die Effektivität der Maßnahme von einer raschen Entscheidung abhänge.
Auch wenn dieser E eine Befangenheit eines (Berufungs-)Richters zu Grunde lag, ist der Allgemeinheit ihrer Formulierung nunmehr wohl klar der Primat der Zweiseitigkeit des Provisorialverfahrens zu entnehmen. Folglich wird es nun - auch in Österreich - eine verstärkte Begründungspflicht für einseitige Provisorialverfahren geben, dh wenn dem Gegner der gefährdeten Partei das Recht auf Anhörung vor Erlassung der EV genommen wird.